Erstveröffentlichung 2015
Seit Monaten werden lange Debatten geführt, die mit keinem Fuss den Boden berühren. Sei es zu den Montagsmahnwachen, sei es zu PEGIDA; als wäre die Geschichte des Denkens bei Hegel stehengeblieben, und die reale, greifbare Welt um uns herum nicht von Belang.
Womöglich will man schlicht die Augen verschließen vor den ungeheuren Folgen der vergangenen Niederlagen. Und tut deshalb, als wäre das Denken der Menschen ein Produkt ihres Willens und nicht der Welt, der Klassenverhältnisse, der Bedingungen, unter denen sie leben. Oder wie sonst ist es erklärbar, dass bei aller geäußerten (und ja auch berechtigten) Abscheu vor unterschiedlich verworrenen, von Klassenstandpunkt freien Überzeugungen immer so getan wird, als hätte jeder, der Nebel im Hirn hat, den Nebel gesucht und sei deshalb blankweg schuldig zu sprechen…
Ohne dass in irgendeiner Weise berücksichtigt wird, dass eine Idee eben nicht durch göttliche Eingebung in den menschlichen Kopf gerät. Sondern auf zweierlei Wegen – durch eigene Erfahrung oder durch Kommunikation. Und dass sich an der Grundbedingung, das herrschende Denken sei stets das Denken der Herrschenden, nichts geändert hat; an dem für uns erstrebenswerten Ziel, dem ein Denken der Beherrschten im eigenen Interesse entgegenzusetzen, allerdings sehr viel. Und zwar im konkreten, fassbaren, materiellen Sinne.
Ich würde mal vermuten, das Münchner „Blatt“ hatte in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts als lokale Zeitschrift eine höhere Auflage, als die Junge Welt sie heute bundesweit hat. Man könnte das als symbolischen Vergleich nehmen. Wer mag, kann sich hinsetzen und die Verlage abzählen, in denen linke Literatur gedruckt wird – selbst unter völliger Ausblendung der DDR wird man feststellen, dass die Zahl der Verlage wie auch die Zahl der Bücher auf einen Bruchteil gesunken ist. Das betrifft das gesamte Spektrum linker Literatur, soweit man die Sozialdemokratie einbeziehen will; die Verlage sind fort und die Zeitschriften ebenso. Das ist der erste, ganz nüchterne, materielle Grund, warum der Nebel in den Köpfen zugenommen hat. Es wird wohl niemand ernstlich erwarten, dass Bertelsmann, das sich als Moloch die deutsche Verlagslandschaft einverleibt hat, sich darum bemüht, gegen die eigenen Interessen zu verstoßen.
Aber es geht weiter. Zu den Auswirkungen fortgefallener Unterstützung wurde nie Bilanz gezogen. Wenn beispielsweise die Information auftauchte, dass Autoren wie Bernt Engelmann (die immerhin guten Teilen einer ganzen Generation die Namen und Geschichten deutscher Konzerne vermittelten) Informationen aus der DDR erhalten hätten, bedeutet es eben auch, dass der Rechercheaufwand, der hinter diesen Informationen steckt, so groß ist, dass er unter heutigen Bedingungen nur noch bruchstückhaft fortgesetzt werden kann. Der mangelnde Begriff, den weite Teile der deutschen politischen Landschaft bezüglich des deutschen Imperialismus haben, ist auch eine Folge dieser fehlenden Kapazitäten. Und selbst wenn die Recherche gelingt, fehlen die Verlage…
Die dritte deutsche Säuberungswelle, die der Bundesinquisitor vor seiner Heiligsprechung zum Präsidenten anführte, hatte den (ebenfalls nicht bilanzierten) Effekt, die letzten Spuren linker Tradition (und ich sage das mit Absicht so offen, da selbst die sozialdemokratische Version schon unter Artenschutz gestellt werden müsste) aus deutschen Universitäten zu tilgen. Während in den Siebzigern in der BRD Aufrufe zu den verschiedensten Themen von allen möglichen Professoren unterzeichnet wurden, finden solche Aufrufe heute fast nicht mehr statt, und die Unterzeichner aus dem akademischen Bereich sind meist bereits emeritiert oder kurz davor. Man vergleiche nur bei der ZEIT die Unterzeichnerliste des Friedensaufrufs mit der des Kriegsaufruf; damit wird das ganze Elend offensichtlich. Auch das hat Auswirkungen auf mehreren Ebenen – selbst wenn die Konzernmedien, die öffentlichen Sender eingeschlossen, jemanden als „Experten“ befragen wollten, ist das Angebot bescheiden. Die Kombination aus der zweiten (Berufsverbote) und der dritten Welle (Gauck) hat das Werk der ersten, von den Nazis initiierten Säuberung vollendet. Damit ist sichergestellt, dass kein aufstrebender Akademiker auf dumme Gedanken kommt, aber gleichzeitig sollte nicht übersehen werden, dass hier zusätzlich weitere – und im Zusammenhang mit öffentlichen Aufrufen nicht unwichtige – Finanzquellen gekappt wurden.
Die Organisationen, die noch existieren, haben ihre Bildungstätigkeit deutlich zurückgefahren. Die Gewerkschaften haben mittlerweile den Begriff der Klasse völlig entsorgt. Und die Veränderungen im Sozialsystem durch Gesetze wie Hartz IV haben die Nebenwirkung, zumindest in prekärer Existenz die erforderlichen Texte zu produzieren, fast unmöglich gemacht.
In Summe befindet sich die Arbeiterbewegung, was irgendwelche Vorstellungen von Hegemonie betrifft, materiell wieder auf einem Stand wie etwa 1860.
Aber auch das bürgerliche Denken selbst hat sich verändert. Es scheint fast, als sei es einzig die Konkurrenz des anderen Systems gewesen, die es vor dem Absturz in die Verdummung bewahrt hat. Und hier rede ich nicht von komplizierten Fragestellungen, hier rede ich schon von einfacher Logik. Wenn man sich die Kriegspropaganda der vergangenen Monate betrachtet, tauchen immer wieder Motive auf, die schlicht der Logik entbehren. Monatelang wird behauptet, in den Städten der Südostukraine wäre es nicht möglich, festzustellen, wer sie beschiesst. Nicht nur in der BILD; diese Behauptung findet sich auch in Zeitungen wie der FAZ oder der ZEIT, deren Leserschaft nicht zu den Bildungsbenachteiligten gehört. Nicht, dass niemand gegen den Inhalt dieser Behauptung protestiert hätte, die Kommentare, sofern sie noch zugelassen sind, sind voll davon. Nein, schon die Behauptung selbst belegt, dass entweder die Schreiber davon ausgehen, die Leser wüssten nicht, wie eine ballistische Flugbahn aussieht, und dass sie berechenbar ist, oder es gar selbst nicht wissen. (In einem Video eines ukrainischen Fernsehteams, das Flüchtlinge aus Gorlowka befragte und mit seinen propagandistischen Absichten aufs Herrlichste scheiterte, gibt es den hübschen Moment, als der ukrainische Reporter zu den Befragten sagt, man wisse ja gar nicht, wer auf die Städte schösse, und eine der Frauen empört antwortet, sie wäre in der Sowjetunion zur Schule gegangen, sie hätte eine gute Bildung, sie wisse, wie man das erkenne). Artikel, Kommentare, Aufsätze sind voller Schlussfolgerungen und Behauptungen, denen schon der logische Zusammenhang mit dem, was sie begründen soll, abgeht. Es ist ein echter, fassbarer Verlust an geistiger Qualität. Wozu auch die Mühe; es wird ja ohnehin nicht angefochten.
Dass die Möglichkeit, auf dem anderen für die Erkenntnis möglichen Weg, dem der Erfahrung in Auseinandersetzungen, die Verluste auf dem Feld der Kommunikation wettzumachen, kaum bestanden hat, brauche ich wohl nicht länger auszuführen. Diese Stille vermag jeder selbst zu hören.
Es ist also kein Wunder, wenn Menschen heute wirrer erscheinen als noch vor zwanzig Jahren. Sie erscheinen es, weil sie es sind. Und sie sind es, weil nur jene Zugang zu anderen Positionen, einem Denken in anderem Interesse als dem der herrschenden Klasse haben, die gezielt danach suchen, und zwar beharrlich.
Wie wird darauf in unseren Kreisen reagiert? Unter anderem mit dem hübschen Wort Verschwörungstheorie. Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, sind grundsätzlich Rechte. Und daher von vorneherein zu ignorieren. Andernfalls betreibe man Querfront…
Betrachten wir doch diesen Begriff einmal. Jüngst erschien ein Artikel im Internet, der sein erstes Auftauchen auf die 1960er datierte, als Schöpfung der CIA, um die Spekulationen über den Hintergrund des Kennedy-Attentats zu kontern. Wie es auch sei, der Begriff arbeitet mit zwei Hypothesen: erstens, eigentlich gibt es keine Verschwörungen, und zweitens, wer an Verschwörungen glaubt, ist ein unheimliches rechtes Subjekt.
Muss man wirklich darauf hinweisen, dass die Verschwörung eine Grundtechnik der Politik ist? Dass keine Satzungsänderung eines Kaninchenzüchtervereins stattfindet, ohne dass sich einige Leute im Geheimen treffen und absprechen? Es also völlig irre wäre, davon auszugehen, dass die unteren politischen Ebenen Verschwörungen brauchen wie die Atemluft, aber ausgerechnet die Spitzen der Politik und der Konzerne genau diese Grundtechnik nicht kennen, sich nie zusammensetzen und Strategien entwickeln, keine Absprachen treffen, vor allem keine mit bösen Absichten?
Die Rede Hitlers vor dem Club der deutschen Industrie ist eine anerkannte historische Tatsache. Aber nehmen wir einmal an, sie fände heute statt, und irgendwer würde darüber auf einer Webseite berichten. Es wäre sofort Verschwörungstheorie. Die meisten Informationen, die in den oben erwähnten Büchern Bernt Engelmanns zu finden waren, würden heute mit diesem Etikett versehen. Wenn sie auf die Art und Weise auftauchten, wie es heute möglich wäre, zumindest. Ohne die Belege und konkreten Angaben, die zu beschaffen es offenbar der staatlichen Macht des anderen deutschen Staates bedurfte.
Manche Anhänger dieses Begriffes gehen so weit, jede Vermutung von geheimdienstlichen Zusammenhängen hinter Ereignissen oder von materiellen Interessen bestimmter Personengruppen (und auch eine herrschende Klasse ist eine Personengruppe) zu Verschwörungstheorien zu erklären. Das Bild der Geschichte, das dann übrig bleibt, hat mit einer Geschichte der Kämpfe zwischen den Klassen allerdings nichts mehr zu tun. Es ist der über den Wassern schwebende Weltgeist, der wieder ins Amt gesetzt wird.
Natürlich haben viele Menschen einen dichten Nebel im Kopf. Damit dieser Nebel dicht genug wird, weil die Produktionsverhältnisse selbst (die ihn aus sich bereits erzeugen!) ihn nicht ausreichend zur Verfügung stellen, wird mit einer ungeheuren Maschinerie nachgeholfen. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 12 Monate im Jahr. Nicht der Nebel sollte überraschen. Überraschen sollte, wenn er sich lichtet.
Ja, die Situation ist schwierig, und auch meine Zehennägel rollen sich oft genug. Aber wir müssen die Rahmenbedingungen sehen, in denen sich jemand befindet, der sich, aus einem wie vagen Unmut auch immer, auf die Suche nach einer anderen Sicht macht. Er findet sich vor einer Fülle von Informationen im Internet, die technisch betrachtet erst einmal alle die gleiche Qualität zu haben scheinen. Kriterien zu besitzen, woran man Wahrheit von Lüge unterscheidet oder gar jene Positionen, die im Interesse der eigenen Klasse und nicht der herrschenden sind, das ist doch das Ziel einer politischen Entwicklung eines Individuums, nicht der Beginn. Der Beginn ist immer ein Herumstochern. Je weniger anerkannte Autoritäten es gibt, je mühsamer die Suche nach einer anderen Sicht, desto schwerer, wenn nicht fast unmöglich, ist es, diese Kriterien aus sich heraus zu entwickeln.
Darauf mit Forderungen nach Abgrenzung zu reagieren und lange Debatten zu führen, an welcher Stelle diese erfolgen solle, ist vollends absurd (dass dies for dem Hintergrund einer akuten Kriegsgefahr geschieht, wo man eigentlich Anderes zu tun haben sollte, gibt dem Schauspiel einen fast makaberen Anstrich). Ja, natürlich verwenden die Leute falsche Begriffe! Natürlich lassen sehen sie ihre Gegner am falschen Ort! Das ist es schließlich, was die Formulierung „das Denken der Herrschenden“ besagt!
Aber wir gehen so weit, jene, die zumindest auf der Suche nach einer anderen Sicht sind, für schlechter zu halten als jene, die die ihnen offiziell servierte Suppe mit Löffel und Stiel verputzen. Die Teilnehmer der Montagmahnwachen sind schlimmer als die grünen Kriegstreiber. Wir werfen ihnen vor, falsche Begriffe zu verwenden, in einem Moment, zu dem sie die richtigen nicht haben können (s.o.). Statt die Bereitschaft zur Suche zu begrüßen, reagieren wir mit Verachtung, weil nicht das richtige gefunden wurde. Ohne dass wir es jemals angeboten hätten.
Ein wunderbares Beispiel wurde die letzten Tage über Facebook verbreitet. Eine Untersuchung, die auf publicative.org steht. Die den Gebrauch unterschiedlicher Begriffe im Zeitverlauf betrachtet und daraus den Schluss zieht, das Wort „Lügenpresse“ sei ein Nazi-Begriff, und daher sei jeder, der ihn gebraucht… Nicht berücksichtigt wurde dabei allerdings die banale Tatsache, dass diese Presse tatsächlich lügt, (wie) gedruckt und auch (wie) gesendet. Es also im besten Falle darum ginge, diesen Begriff durch einen anderen zu ersetzen, da er ein wirkliches Phänomen beschreibt, und nicht darum, in jedem Verwender dieses Begriffes einen Gegner zu sehen.
Ja, in vielen Fällen gelingt es, die eine Propaganda durch eine andere zu ersetzen. Aber eines darf man nie vergessen: jede Propaganda gelingt nur, wenn sie sich ein wirkliches Gefühl, ein wirkliches Bedürfnis zu Nutze macht. Im Falle PEGIDA ist das besonders unangenehm, wenn man sich auf die Suche nach dem wirklichen Gefühl macht. Es ist Heimatlosigkeit. Wenn man sich wundert, warum im Westen die Entwicklung völlig anders verlief, muss man sich nur diesen Punkt betrachten. Dieses Gefühl existiert im Westen so nicht. Der Westen wurde nämlich nicht besetzt und ausgeplündert. Es ist unser Versagen, dass ein Gefühl, das sich auf eine verlorene Heimat DDR bezieht, genutzt werden kann, um daraus rassistisches Kapital zu schlagen. Es ist nicht die Schuld jener, die auf diese Demonstration gehen. Und wenn man der Möglichkeit, dieses Gefühl zu nutzen, das Wasser abgraben will, muss man es offen und offensiv aussprechen.
Die Lage ist entsetzlich verworren. Sie wird es, fürchte ich, noch länger bleiben. Sie ist es auch bei uns, das Spektrum reicht von jenen, die meinen, eine Kriegsgefahr könne es nicht geben, bis zu jenen, die meinen, dieses Kind sei bereits in den Brunnen gefallen. Aber jede Frage, jedes Thema hat einen höheren Rang als die eine Aufgabe, die wir tatsächlich hätten, im Interesse unserer Klasse wie dem unseres Landes, wenn nicht gar dem der gesamten Menschheit – den Krieg, an dem gerade gearbeitet wird, zu verhindern. Mit allen Mitteln.
Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich nur mit Teilaspekten beschäftigt habe; natürlich wären noch weitere Aspekte nötig. Aber es wäre schon mal was, wenn das Feld der reinen Ideologiekritik endlich verlassen würde.