Erstveröffentlichung Mai 2015
Wir halten vor einer ausgebrannten Kirche. Das ist Petrowski, eines der Viertel, das am schwersten unter dem ukrainischen Beschuss gelitten hat. Die Zerstörung wirkt völlig zufällig, eine artilleristische Lotterie, die zwischen unberührten, makellosen Gebäuden Ruinen hinterlässt. Petrowski ist ein Vorort aus ebenerdigen roten Ziegelhäusern, von grünen Metallzäunen umgeben, der sich zwischen Bergwerke, Fabriken und Bahnstrecken quetscht. Die ganze Landschaft wird von den Abraumhügeln beherrscht, die ein Jahrhundert des Bergbaus hinterlassen hat, und die noch immer ihr rohes steinernes Gesicht zeigen.
Dieses Gebäude wurde im 19. Jahrhundert errichtet, als Verwaltungsbau, erzählt Alexandr Kolesnik, ein Abgeordneter des Parlaments von Noworossia; später wurde es zu einer Schule, und schliesslich während der Perestroika zu einer Kirche umgebaut. Alle Frauen unserer Gruppe bedecken ihre Köpfe. Stanislawa, eine unserer Wachen, eilt zu dem türkischen Fotografen und bittet ihn um den Schal, den er um den Hals trägt, als sie sieht, dass ich nichts dergleichen habe. Also betrete ich diesen Ort mit seinem grauen Baumwollschal um meinen Kopf.
Was einmal der zentrale Raum der Kirche war, ist jetzt eine offene Ruine. Von den klaffenden Löchern, einst Fenstern, ziehen sich schwarze Brandspuren nach unten, und der Geruch von verbranntem Holz liegt immer noch in der Luft, obwohl das Feuer schon vor Wochen gelöscht wurde. Das Vordach über dem Eingang gibt es noch, aber jetzt ist es ein Dach aus Holzkohle. Das ist Donezks kleine Version der Coventry Cathedral.
Ein kleiner Raum hinter dem ehemaligen Altarraum besteht noch, und dort feiert eine dicht gedrängte Gemeinde einen Gottesdienst. Diese Gegend wurde einen ganzen Tag lang beschossen, ohne Unterbrechung, wird mir erzählt; es waren Leute in der Kirche, als sie getroffen wurde; glücklicherweise konnten sie entkommen und es gab keine Toten.
Hinter der Kirche liegt ein Hof, den zwei angekettete Hunde bewachen, die laut gegen unser Eindringen anbellen; in dem Hof gibt es einen Brunnen und mehrere Gemüsebeete. Dazwischen steht ein Tisch mit einer Sammlung verbogener Metallrohre, die Überreste der Raketen, die die Kirche zerstört haben; ist das Grad? Nein, das ist nicht Grad, das ist Uragan. Die Raketen von Uragan sind grösser als die von Grad…
Wir setzen unsere Fahrt fort.
Zwischen Gestrüpp, kleinen Häusern und einem Abraumhügel liegt eine kleine Hütte, die sich als Eingang zu einem alten sowjetischen Luftschutzraum erweist. Ich habe nie zuvor einen Luftschutzkeller betreten. Während wir die Betontreppe hinuntergehen, denke ich an meine Mutter. Als ich klein war, versuchte sie mich davon zu überzeugen, meine Kleidung abends ordentlich zusammenzufalten, indem sie sagte, wie nützlich das sei, falls man sich im Dunkeln schnell anziehen müsse, weil es Bombenalarm gibt. Meine kindliche Logik sorgte dafür, dass ich nie meine Kleidung zusammenfaltete, schließlich wollte ich an keinem Krieg schuld sein…
Hinter zwei schweren weissen Stahltüren beginnt eine unterirdische Welt voller Betten, Decken, Berge von persönlichen Dingen und – Menschen. Zwei blondgelockte Mädchen tauchen auf, die jüngere im Arm der Älteren; das kleine Mädchen trägt ein rosa Kleid und eine silberne Plastikkrone und wird als Prinzessin vorgestellt…
Die Leute hier kochen auf kleinen Elektroplatten auf dem Betonboden, nur wenige Meter vom nächsten Bett entfernt, das unter einem Plakat steht, auf dem das Schema der längst entschwundenen sowjetischen Verteidigung dargestellt wird. Unter diesem Plakat liegt auf einer Matratze ein zugedeckter Hügel, den nur die herausragenden Schuhe als einen schlafenden Mann erkennen lassen. Unter der Decke des ersten Saals verläuft rund herum ein verblassendes Wandfries der glorreichen sowjetischen Armee, was dem ganzen Ort die Atmosphäre eines entweihten Heiligtums der Vergangenheit verleiht, das von den Bewohnern der Gegenwart besetzt wurde. Es ist ein besonderer Zynismus, dass eines dieser einst stolzen farbigen Bilder einen Grad-Raketenwerfer zeigt, genau jene Art Waffe, vor der sie hier Schutz suchen mussten.
Im nächsten Raum ist das Fries den feindlichen Kräften gewidmet, schwarz-weisse Zeichnungen von Pershing-Raketen und Tornado-Flugzeugen; in einer Ecke darunter wurde durch einen kleinen Baldachin ein abgegrenzter persönlicher Bereich geschaffen, angefüllt mit Teddybären und den bunten Dosen, die ein Überrest der humanitären Weihnachtsgeschenke sind.
Einige der Leute leben hier schon seit letztem Sommer. Manche wagen es nicht mehr, den Luftschutzraum zu verlassen; sie schmuggeln anderes Leben von draussen ein, in Gestalt eines Wellensittichs, einer Taube und eines Hundes, die ihre verborgene Heimstatt teilen. Hier ist es zu weit weg von der Stadtmitte, als dass sie die Orte erreichen könnten, wo die humanitäre Hilfe verteilt wird; also hängt ihr ganzes Dasein an den Lieferungen durch Freiwillige, und etwas davon wird gerade auf einem Holztisch zu frischen Teigtaschen verarbeitet, mit direktem Blick auf den schlafenden Mann und das Organigramm der sowjetischen Verteidigung.
Das hier wurde als Atombunker gebaut, also gibt es Wasser, Elektrizität und frische Luft, wenn auch muffige; verglichen mit anderen Schutzräumen ist das fast luxuriös, das sind oft schlicht einfache Keller, denen jede Infrastruktur für eine längere Bewohnung abgeht.
Im letzten Sommer, als sie hörte, dass die Volksrepublik Donezk Luftschutzkeller vorbereite, sagt Olga, meine Übersetzerin, habe sie das noch für lächerlich gehalten. Die meisten Räume erwiesen sich als unbrauchbar; sie waren den Fabriken und Bergwerken zugewiesen, und die neuen Besitzer hatten sie mit irgendetwas vollgestopft oder schlicht die Erhaltung vernachlässigt, und einige fielen Betriebsschliessungen und Pleiten zum Opfer. Aber wer konnte ernstlich einen Bruderkrieg erwarten, der die sowjetischen Waffen gegen genau jene Menschen richtet, die zu beschützen sie einst gebaut wurden?
Hier will niemand mit uns reden. Der Abgeordnete, der uns begleitet, wird zum Ziel des Zornausbruchs eines alten Bergmanns, den Olga bruchstückhaft übersetzt, vermutlich um viele Flüche bereinigt. Sie erzählen doch nur Lügen über uns. Wir wollen nicht mit ihnen reden. Während er seinen Zorn auf die westlichen Medien ablädt, streichelt eine Frau mittleren Alters mit perfekter Frisur und Make-Up die Taube, die an eines der Rohre gebunden ist, die im zweiten Saal verlaufen. Es ist die Haut seiner Hände, die seinen früheren Beruf verrät.
Als wir den Bunker verlassen, sitzen die zwei Mädchen still nebeneinander auf einer der Holzbänke.
Am späten Nachmittag erreichen wir das Stadion von Donezk. Das frisch gelandete UFO mit seiner Glasfassade wurde durch die Feindseligkeiten angekratzt, aber nicht ernsthaft beschädigt. Die Sporthelden, die es auf riesigen Bannern dekorieren, sind längst verschwunden; der Klub zog in die Westukraine, vermutlich, weil sein Besitzer die Möglichkeit zur Teilnahme an der Champions-League nicht verlieren wollte, obwohl das für die Fans aus der Heimatstadt bedeutet, auf feindliches Gebiet wechseln zu müssen, wenn sie ein Spiel sehen wollen. Das glitzernde Stadion blieb als leere Hülle zurück, eingekreist von dem hochentwickelten System aus Käfigen und Zäunen, mit dem die Noblen der UEFA einen wilden proletarischen Mob zu bändigen wünschten.
Nachts wird es beleuchtet, sagt Olga. Das ist schön, es sieht aus wie ein Diamant. Ich kann das nicht bestätigen; es gibt immer noch eine nächtliche Ausgangssperre in Donezk, so dass die einzigen Fremden, die Zeugen dieses Spektakels werden können, jene sind, die in den blitzenden neuen Hoteltürmen beim Stadion residieren.
Neben dem Stadion steht ein Monument des Grossen Vaterländischen Kriegs, eine späte Version aus den 1980ern, ein schwarzes steinernes Dreieck gekrönt von zwei grossen Statuen eines Soldaten und eines Bergmanns; auf der Plattform davor stehen Panzer, Luftabwehrgeschütze und andere Waffen aus dem zweiten Weltkrieg. Stanislawa, die ehemalige Floristin, klettert auf einen alten gepanzerten Personentransporter und bittet um ein Foto. Der Platz daneben ist leer; keiner weiß, ob das fehlende Objekt entfernt wurde, um es für das kommende Jubiläum des Tages des Sieges neu zu streichen, oder ob es wieder in Dienst gestellt wurde, wie das schon anderen dieser Denkmäler geschah. Hierher kommen die Paare nach der Hochzeit, erzählt Olga, das ist Tradition hier, um ihre Vorfahren zu ehren, die den Faschismus niedergerungen haben; wie könnten wir je akzeptieren, dass unsere Geschichte umgeschrieben wird? Wie könnten wir je eine Herrschaft Banderas hinnehmen?