Strategiepapiere oder: Denken ist verboten

Erstveröffentlichung 02/2015

Da hätten sie Putin mit der Hand in der Keksdose erwischt, jubeln in den letzten Tagen die deutschen Konzernmedien und präsentieren mit stolzgeschwellter Brust ein „Strategiepapier“, das ihrer Ansicht nach beweisen soll, dass alle Ereignisse auf der Krim wie im Donbass nichts als böse Machenschaften des Kreml seien…

Sie müssen ihre Leser sämtlich für Idioten halten.

Mal abgesehen davon, dass dieses Papier gerade mal zehn Tage vor dem Putsch in Kiew entstanden sein soll und dafür gravierende Fehleinschätzungen enthält (also etwa davon ausgeht, dass sich Janukowitsch bis zu den regulär angesetzen Wahlen hält), also im besten Fall eine aktuelle taktische Einschätzung sein kann und mitnichten ein „Strategiepapier“ – so etwas soll ein Beleg für das Steuern der Ereignisse sein?

Diese Behauptung funktioniert nur, weil es erfolgreich gelungen ist, dem Publikum einzureden, strategisches Denken sei grundsätzlich böse und die Annahme, dass es solches gäbe, wäre eine „Verschwörungstheorie“.

Und natürlich auch deshalb, weil die entsprechenden hiesigen Papiere nicht in solcher Breite veröffentlicht werden.

Denken wir doch mal nach, wer alles solche Überlegungen in der Bundesrepublik anstellen dürfte. Angefangen von den offiziell zuständigen Stellen.

Beim Bundeskanzleramt muss es stapelweise aktuelle Analysen der ukrainischen Entwicklungen aus dem BND geben; beim Auswärtigen Amt zusätzlich noch entsprechende strategische Entwürfe zur deutschen Aussenpolitik; allgemeine politische Analysen bei der BND-Tochter SWP. Vermutlich hat selbst die Bundeswehr eine eigene Analyse erstellt.

Als nächstes folgen die Stiftungen der Parteien, die ebenfalls solche Papiere produzieren, wenn auch nicht immer für die Augen der Öffentlichkeit. Kaum anzunehmen, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung Millionen in die Klitschko-Partei gesteckt hat, ohne zuerst eine Analyse und eine Strategie für die Ukraine zu erstellen. Gleiches gilt für die Heinrich-Böll-Stiftung, deren Chef Ralf Fücks sich ja irgend etwas dabei gedacht haben muss, als er beschloss, sich mit Kolomoiskij anzufreunden….

Des weiteren unterhalten große Banken und Konzerne eigene Strategieabteilungen, die ebenfalls nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Entwicklungen bewerten und im eigenen Interesse mögliche Massnahmen empfehlen. Das heisst, zumindest jede Position auf der DAX-Liste dürfte mindestens ein solches Dokument erzeugt haben.

Jedes einzelne dieser Papiere dürfte Empfehlungen zu bestimmten politischen Massnahmen enthalten. Jede einzelne dieser Empfehlungen lässt sich als Versuch der Steuerung politischer Prozesse in einem anderen Land lesen, und wenn sie erfolgreich ist, handelt es sich um eine tatsächliche Steuerung politischer Prozesse in einem anderen Land. Ein relativ bekanntes Beispiel dafür von deutscher Seite ist das Handeln der Friedrich-Naumann-Stiftung in Honduras.

Es wäre sicher interessant, zu lesen, warum die Konrad-Adenauer-Stiftung neben ihrer ukrainischen Marionettenpartei Udar auch noch die Nazis von Swoboda förderte. Da letztere nichts Anderes zu bieten haben als fanatischen Hass auf Russland, dürfte das Dokument, das diese Förderung begründete, einiges zu den Russland betreffenden strategischen Absichten preisgeben.

Das alles ist politisches Tagesgeschäft. Jeder, der seine Nase etwas in diese Strukturen hineingesteck hat, weiss das. Wäre man ehrlich, müsste man dieses russische Papier mit einem Achselzucken auf den Ablagestapel legen und allerhöchstens hinzufügen, die wären auch schon mal besser gewesen…

Statt dessen wird auf ein banales Dokument reagiert, als wäre es der Beleg für ein Verbrechen.

Und es funktioniert sogar. Die Kommentarspalten belegen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die diese Erzählung schlucken. Warum? Weil sich das politische Handeln und die Berichterstattung darüber himmelweit voneinander entfernt haben, so weit, dass die Erzählung, die präsentiert wird, nichts mehr mit den Motiven, den Interessen und den Abläufen zu tun hat. Politik wird so präsentiert, als gäbe es nur kurzfristige, spontane und dann von irgendwelchen „Werten“ gesteuerte Reaktionen auf unvorhersehbare Ereignisse. Selbst die Verhandlungen über TTIP werden dargestellt, als gäbe es vor den konkreten Verhandlungen über Vertragstexte keine Vorverhandlungen, in denen die Interessensclaims bereits abgesteckt wurden, und als würden selbst den Vorverhandlungen nicht lange Phasen vorausgehen, in denen beispielsweise Industrielobbyisten den Volksvertretern die Seele zurechtmassieren.

Selbst auf der untersten, der kommunalen Ebene, wird tatsächlich von Interessen gelenkte Politik mit einer romantischen Erzählung verhüllt. Ein kleines Beispiel aus München: die Stadtwerke, übrigens Nummer fünf auf dem bundesweiten Energiemarkt, bauen ein Windkraftwerk vor der walisischen Küste. Weil ja die Versorgung der Bürger mit erneuerbaren Energien sichergestellt werden soll, heisst es. Die Stadt übernimmt zur Finanzierung dieses Projekts eine Bürgschaft jenseits einer Milliarde. Allerdings gibt es ein Detail, das dieses Projekt auszeichnet – es handelt sich um das erste Windkraftprojekt, das nicht mehr von mittelständischen Unternehmen errichtet wird, sondern von einem Großkonzern, Siemens, der damit versucht, diesen Markt unter Kontrolle zu bringen (was von diversen Versuchen, Turbinenproduzenten aufzukaufen, begleitet wird). Siemens sitzt, nebenbei bemerkt, in München. Die städtische Bürgschaft für dieses Projekt ist also letztlich eine kommunale Subvention im Interesse eines grossen deutschen Konzerns, der dadurch das Risiko für die Erschliessung des neuen Marktes teilweise auf die Bürger der Stadt seines Verwaltungssitzes abgewälzt hat. Diese Tatsache fand übrigens in den dem Stadtrat vorgelegten Papieren keine Erwähnung, und in der stark eingedampften Version, in der diese Papiere dann in der Presse auftauchen, erst recht nicht…

Auch in diesem Falle dürfte es in den Eingeweiden der Firma Siemens ein Dokument geben, in dem eine Strategie erarbeitet wird, wie eine Position auf diesem spezifischen Markt erreicht werden kann, und welche politischen Massnahmen dafür sinnvoll wären. Und dann dürfte es Besprechungen zwischen Siemens und Vertretern der Stadtwerke gegeben haben, aus denen dieses Windkraftprojekt hervorging. (Die Waliser, vor deren Küste das Ding dann aufgestellt wurde, wurden in dem ganzen Verfahren übrigens nicht gefragt, und wie die Firma Siemens die Zustimmung der Londoner Politik dazu erreichte, wäre auch eine interessante Frage).

An manchen Stellen, wie etwa im Weissbuch der Bundeswehr, wird tatsächlich offen von Interessen gesprochen. Es wird ja auch offen im Interesse gehandelt. Der Bundeswehreinsatz bei Somalia beispielsweise dient den Interessen der deutschen Containerflotte… die, auch wieder dank massiver öffentlicher Förderung über Jahrzehnte, beeindruckend gross ist, selbst wenn die Schiffe über internationale Reedereien vermietet werden und unter den üblichen exotischen Flaggen fahren. Sichtbar wurde das nur, als die HSH Nordbank im Gefolge des Einbruchs im Welthandel in Schwierigkeiten geriet.

Die Subventionierung des Baus von Containerschiffen folgte übrigens ihrerseits wieder einem strategischen Interesse, der Förderung der deutschen Exportindustrie nämlich…

Bei genauerer Betrachtung stösst man also überall auf strategisches Handeln, weshalb man überall voraussetzen muss, dass auch entsprechende strategische Überlegungen stattfinden.

Welchen Zweck erfüllt es dann, bei einem einzelnen Dokument so zu tun, als wäre es skandalös?

Natürlich, es wird genutzt, um die russische Politik zu dämonisieren. Die Behauptung, hier würde anders verfahren, zielt aber ebenso sehr nach innen. Es wird ja nicht nur in Bezug auf die Ukraine so getan, als könne die BRD kein Wässerchen trüben und als würde weder die deutsche Politik noch die deutsche Industrie eigene Interessen verfolgen. TTIP und alle seine Geschwister werden präsentiert, als wären es nur die anderen, die von solch undemokratischen Strukturen profitieren, und als würde nicht auch die deutsche Industrie danach streben, sich jeder politischen Kontrolle zu entziehen. Dabei ist jede der grösseren Schweinereien in der EU, wie die berüchtigte Dienstleistungsrichtlinie, erst einmal auf deutschem Mist gewachsen. Bei den jeder Demokratie Hohn sprechenden politischen Zwangsvorgaben der Troika spart man sich mittlerweile die Tarnkappe; da dürfen griechische Finanzminister jetzt direkt bei Herrn Schäuble vorsprechen, weil ohnehin jeder weiss, dass er über die Reaktion der EZB, der EU und des IWF entscheidet.
In der Ukraine sind es übrigens nicht mehr nur Änderungen im Steuerrecht, die einen erkennbaren deutschen Stempel tragen; in den letzten Tagen wurden auch eine ganze Reihe Änderungen im Arbeitsrecht eingeführt, die so sehr an die Troika-Verträge erinnern, dass man auch hier die Urheber in Berlin vermuten muss. Was wieder einen kleinen strategischen Hintergedanken im Umgang mit der Ukraine offenbart. Neben der unübersehbaren Funktion als Aufmarschplatz gen Russland dient sie wohl auch als Versuchslabor, was den Einwohnern eines Staates zugemutet werden kann, ehe dieser in Stücke fällt.

Aber das klingt ja schon wieder ein wenig nach „Verschwörungstheorie“, oder?

Das wirklich bösartige an dieser Erzählung, allein das Vorhandensein von „Absichten“ sei schon ein Beleg des Bösen, ist ihre Kehrseite. Die besagt, hier, etwa in der deutschen Politik, gäbe es keine „Absichten“, und daher auch keine entsprechenden Pläne. Und jede Vermutung solcher „Absichten“ wäre eine Unterstellung. Erstaunlicherweise wird diese Konstruktion selbst von Menschen geglaubt, die sich für aufgeklärt, kritisch und links halten.

Dabei wird hier die Frage mit einem Verbot belegt, die am Anfang jeder aufgeklärten Betrachtung der Politik, ja, im Grunde am Anfang jedes politischen Denkens steht, und die so alt ist, dass sie sich in ihrer lateinischen Form erhalten hat: Cui bono? Wem nützt es?

Diese Frage ist verwerflich, weil sie die „Werte“ herabsetzt, die angeblich die hiesige Politik lenken. Wohlgemerkt, es gibt keine Fakten, die diese Behauptung stützen. Die Fakten, und ganze Bibliotheken historischer Forschung, belegen, dass jeder Krieg von Interessen angetrieben wird, die sich beziffern und benennen lassen; dass sich in der politischen Arena die Kräfte durchzusetzen pflegen, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten, und dass Momente, in denen sich die Interessen der Besitzlosen, der ökonomisch Ohnmächtigen auch nur ansatzweise durchsetzen, immer das Ergebnis erbitterter Auseinandersetzungen sind.

In meinem Bücherschrank steht ein Buch mit dem Titel „Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945“. Tausend Seiten Dokumente, ohne Kommentar, nichts als Denkschriften, Berichte, Strategiepapiere aus deutschen Konzernen und Ministerien. Durch die sich mit erschütternder Kontinuität Überlegungen ziehen, wie wir sie in der heutigen EU umgesetzt finden.

Vor diesen verfügbaren und zugänglichen Informationen wird eine Nebelwand aus „Werten“ hochgezogen, die mit so viel sakralem Pathos aufgeladen werden, dass jeder Versuch, sie in Frage zu stellen, dahinter nach Absichten und Interessen zu suchen, mit dem Vorwurf der Ketzerei erwidert wird.

Es ist tatsächlich ein Ersatz für die feudale Vorstellung einer „heiligen Ordnung“. Da auf dem Feld der Fakten die Schlacht nicht zu gewinnen ist, muss verhindert werden, dass die Fragen, die zu den Fakten führen, überhaupt gestellt werden dürfen. Zu nichts anderem dient der Begriff der „Verschwörungstheorie“. Die erste Frage, „wem nützt das“, ist schon der Moment, in dem die Linie des wahren Glaubens verlassen wird, und augenblicklich tritt die Inquisition auf den Plan und verkündet, wer diese Frage stelle, sei mit dem Teufel im Bunde. Die Auseinandersetzung wird nicht mehr um die Inhalte einer Kritik geführt, sondern bereits um die Möglichkeit einer Kritik.

Hier ist es, wo die linken Anhänger des Vorwurfs der „Verschwörungstheorie“ gewaltig in die Irre gehen. Sie meinen, es ginge um falsche Inhalte; es ginge darum, Irrwege in der Interpretation zu bekämpfen, beispielsweise in einer Kritik am Finanzkapital verborgenen Antisemitismus, und übersehen dabei komplett, dass dieser Vorwurf nicht gegen die Richtung einer Kritik gewendet ist, sondern gegen Kritik an sich. Nicht gegen eine falsche Antwort auf eine richtige Frage, sondern gegen die Frage selbst. Und machen sich so zu willigen Kollaborateuren einer ideologischen Strategie, die die richtigen Antworten auf die richtige Frage ebenfalls eliminiert und das politische Denken selbst durch einen nebligen Schwulst aus „Werten“ wie „Freiheit“ und „Toleranz“ ersetzt. Die, wie man an den „XY ist bunt“-Aktionen der vergangenen Monate sehen konnte, keinerlei politischen Inhalt mehr besitzen, keinerlei Verbindung zur Realität etwa des tagtäglich durch Frontex exekutierten institutionellen Rassismus, sondern nur noch die sakralen Akte eines bedingungslosen Glaubens sind, der, von jedem Klassenkonflikt, von jedem Interesse, von jeder materiellen Wirklichkeit entleert, alle zu Apostaten erklärt, die ihm nicht Folge leisten wollen.

Wolfgang Ischinger, der Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, der dort jüngst die Atacke auf Lawrow orchestriert hat, wird vom Versicherungskonzern Allianz finanziert. So, wie man bei Elmar Brok davon ausgehen kann, dass seine Positionen die des Hauses Bertelsmann sind, dürfte die Position Ischingers die der Allianz widerspiegeln. Sonst würde sie ihn nicht zahlen. Die Allianz ist der weltgrösste Versicherungskonzern und zugleich Muttergesellschaft des weltgrössten Hedgefonds PIMCO. Wenn das politische Sprachrohr der Allianz eine deutlich aggressive Haltung gegenüber dem russischen Außenminister einnimmt, hat das dann nichts mit Interessen zu tun? Oder, anders formuliert, wenn das Verhalten Ischingers den strategischen Zielen der Allianz widersprechen würde, wie viele Tage hätte er sich nach diesem Auftritt noch auf ihrer Lohnliste befunden? Eben.

Irgendwann, eines Tages, wird es ein weiteres Buch geben, „Europastrategien des deutschen Kapitals ab 1946“. Darin wird man dann vielleicht lesen können, was in den Strategiepapieren der Allianz stand. Oder jenen des deutschen Aussenministeriums. In den wirklichen Dokumenten, nicht diesen Handreichungen zur Volksverblödung, wie sie jüngst durch die Presse geisterten. Dann wird sich nachvollziehen und beweisen lassen, wer wann warum welches Interesse an dieser Kriegstreiberei hatte, so wie es bei den letzten beiden Anläufen nachvollziehbar und beweisbar ist.

Vorausgesetzt, es gelingt uns, das großformatige Verbrennen aller Archive zu verhindern, mit dem sie im Augenblick spielen. Dafür sollten wir zuerst die eine Frage erbittert verteidigen, die jede Form von Widerstand erst ermöglicht:

Cui bono? Wem nützt es?

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