Tells Apfel und die Putintrolle

Und dieses ist des Landvogts Will und Meinung:
Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehn,
Man soll ihn mit gebognem Knie und mit
Entblösstem Haupt verehren – Daran will
Der König die Gehorsamen erkennen.
Verfallen ist mit seinem Leib und Gut
Dem Könige, wer das Gebot verachtet.

Schiller, Wilhelm Tell

Seit einigen Jahren könnte man glauben, die Medien seien verrückt geworden. Auf der einen Seite werden Propagandaerzählungen aufeinander gestapelt, die in sich widersinnig und unlogisch sind, auf der anderen Seite jeder zum Feind erklärt, der diese Erzählung in Frage stellt.

Die Erzählung vom syrischen Giftgasangriff vor wenigen Wochen etwa. Die einfachste Erwiderung darauf war ein Bild von Syriens Präsident Assad, daneben eine Sprechblase mit etwa folgendem Text: „Wir siegen an allen Fronten, der Waffenstillstand breitet sich aus… Lasst uns einen Giftgasangriff machen, sonst wird das nichts mit dem von Islamisten gepfählt werden.“

So zynisch diese Darstellung war, so treffend fasste sie die Widersprüche zusammen. Selbst ohne jede Hintergrundinformation, nur mit ein bisschen aktueller Kenntnis der Entwicklung der letzten Monate, musste man über diesen logischen Bruch stolpern. Es fehlte schlicht völlig das Motiv.

Klar, dass die Medien selbst diese Frage nicht aufwerfen. Aber warum wird eine inhaltliche Linie gehalten, die derart fragil ist, das simpelste Logik sie in Stücke reißt? Sind die gut bezahlten Beschäftigten der Konzern- und Regierungsmedien etwa zu dumm, um halbwegs konsistent zu lügen? Ist das Publikum zu dumm, diese Brüche zu erkennen?

Es gibt eine ganze Reihe alternativer Medien, die sich in den letzten Jahren darum verdient gemacht haben, diese Erzählungen aufzudröseln und jede einzelne Unterlassung, Unwahrheit und Verzerrung aufzuzeigen (wie die Propagandaschau). Und es gibt inzwischen eine Menge Menschen, die schlicht nichts mehr glauben, was über die Fernsehbildschirme flimmert. Es gibt aber auch nach wie vor viele, die diese Erzählung übernehmen. Dummheit ist an beiden Enden keine ausreichende Erklärung für das Phänomen. Und niemand wird so viel Energie und Zeit aufwenden, um etwas völlig Sinnloses zu tun; auch nicht der Springer-Konzern. Also muss es einen tieferen Grund für diese scheinbare Schlampigkeit geben.

Goebbels soll angeblich gesagt haben, eine dreiste Lüge müsse man nur oft genug wiederholen, dann würde sie geglaubt. Und viele Beobachter meinen, es ginge bei dem, was wir hier beobachten, schlicht um die Wiederholung der dreisten Lüge.

Tatsächlich handelt es sich aber um eine Gesslerhut-Inszenierung.

Der habsburgische Vogt Gessler soll, der Sage zufolge, in der Schweiz seinen Hut auf eine Stange gesetzt und vom Volk verlangt haben, diesem Hut die selbe Achtung zu erweisen wie ihm selbst. Wilhelm Tell soll dem Hut den Gruß verweigert haben und deshalb gezwungen worden sein, mit der Armbrust auf einen Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zu schießen. In Schillers Drama ist das der Moment, in dem der Held zum Aufständischen wird.

Der Gesslerhut ist ein Symbol, das Kooperation erzwingen soll. Jede Form von Herrschaft bedarf der Kooperation und kann sich nicht allein auf die bewaffnete Macht stützen; zerbricht die Kooperation, nützt im Regelfall die beste Bewaffnung nichts mehr. Warum? Weil Herrschaft immer auf der Befolgung eines ganzen Komplexes von Regeln beruht. An roten Ampeln bleiben Autos und Fußgänger in der Regel stehen. Es ist völlig unmöglich, die Beachtung von Ampelsignalen mit der bewaffneten Macht durchzusetzen, also, neben jede Ampel einen Polizisten zu stellen. Diese Kooperation ist nie absolut, aber es ist erforderlich, dass die Mehrheit die grundlegenden Regeln befolgt, etwa die Gesetze im Großen und Ganzen einhält.

Weil Kooperation ein grundlegender Zug des Menschen ist, ist sie auch auf der politischen Ebene den größten Teil der Zeit gegeben. Es braucht weniger Polizisten als Ampeln. Unter bestimmten Umständen wird die Bereitschaft zur Kooperation aber deutlich schwächer. Das kann von zwei Seiten befeuert werden – je stärker die Herrschenden selbst die Regeln missachten (Cum-Ex-Geschäfte beispielsweise), desto schwächer wird die Bereitschaft der Beherrschten, sich ihnen zu unterwerfen; ebenso führt eine Entwicklung, die von größeren Teilen der Bevölkerung als ungerecht empfunden wird, zu einem Nachlassen der Kooperation. Erstes Anzeichen dafür kann, muss aber nicht, ein Ansteigen der Kriminalität sein.

Eine Zeit lang lässt sich Kooperation erhalten, indem der Druck erhöht wird. Die meisten Menschen reagieren langsam selbst auf unerträgliche Zustände, lassen sich sehr viel bieten, ehe sie anfangen, zu murren, weil ihnen das Risiko einer Verweigerung der Kooperation zu hoch erscheint.

Dass der Druck erhöht wird, ist unverkennbar. Wohlgemerkt, hier handelt es sich nicht um den materiellen Druck, auch der wurde erhöht (z.B. mit Hartz IV), sondern um psychologischen Druck. Der Spielraum für abweichende Meinungen wird immer enger. Auf allen Ebenen wird signalisiert, dass das Äußern abweichender Meinungen als feindseliger Akt gesehen wird; das und nichts anderes bedeuten die Begriffe Putintroll, Rußlandversteher, Querfrontler, Verschwörungstheoretiker, und Gleiches gilt auch für den äußerst großzügigen und wissenschaftlich nicht haltbaren Gebrauch der Benennung ‚Rassist‘. Diese Bezeichnungen richten sich nicht an jene, die tatsächlich die abweichende Position vertreten (obwohl es in diesem Bereich inzwischen echte Verfolgung gibt), sondern primär an jene, die vielleicht diese Positionen übernehmen könnten. Ihnen wird erklärt: wenn ihr das glaubt, seid ihr unsere Feinde. Ihr seid Staatsfeinde. Und wer will schon zum Staatsfeind werden, nur weil ihm die öffentliche Erzählung nicht geheuer ist?

Aber welche Funktion hat dabei die offene Lüge, der logische Bruch?

Sie ergänzen die Drohfassade. So wie der Gesslerhut absurd ist, so ist es auch die alltägliche Propaganda. Die Absurdität ist es erst, die aus dem Wahrnehmen und Übernehmen einer offiziellen Erzählung eine Beschwörung der Kooperation erwachsen lässt. Es geht gar nicht darum, zu überzeugen. Es geht darum, Gehorsam einzufordern.

Die Nazis haben diesen Trick auf sehr einfache Weise in den Alltag integriert. Sie zwangen alle, als alltäglichen Gruß ‚Heil Hitler‘ zu verwenden. Auf Stadtführungen in München kann man noch heute hinter der Feldherrnhalle das sogenannte ‚Drückebergergasserl‘ sehen, eine kleine Querstraße, die all jene nutzten, die vor der Feldherrnhalle den dort unvermeidlichen Gruß nicht ableisten wollten. Die ukrainischen Faschisten folgen ihrem Vorbild und verlangen auf ihren Gruß ‚Heil der Ukraine‘ die Antwort ‚Heil den Helden‘. Diese Rituale dienen nicht der Überzeugung; sie erzeugen eine alltägliche, allgegenwärtige Drohkulisse. Diese Drohkulisse ändert nichts an den Überzeugungen, aber sie soll zeigen, dass jede Abweichung sofort einen hohen Preis fordert.

Logische Argumente, eine konsistente, gut recherchierte Darstellung können diese Funktion nicht erfüllen. Sie erzwingen keinen Akt der Unterwerfung, weil sie ja überzeugen können. Wenn Kooperation brüchig wird, sind Argumente nutzlos, weil die Brüchigkeit immer äußerst reale, handfeste Ursachen hat (s.o.), die sich nicht weg argumentieren lassen. Nur die Überschreitung der logischen Grenzen, das Absurde, bietet den Rahmen für eine Manipulation auf der Ebene der Kooperation.

Wie der Gesslerhut zu seiner Wirksamkeit von Wachen umgeben sein musste, die auf seine Mißachtung sofort reagieren, so bedarf die absurde Propaganda der Ergänzung durch ein deutliches Feindbild. Die unhaltbaren Legenden, die dabei gestrickt werden (wie jene von der ‚Landbrücke zur Krim bei Mariupol‘), erreichen ihr Potential erst, wenn gleichzeitig jede Abweichung dämonisiert wird.

Eine Erzwingung der Kooperation zielt dabei nicht auf das Denken. Die SoPaDe-Berichte, die die SPD während der Nazizeit im Exil sammelte, belegen, dass die Nazipropaganda nicht wirklich geglaubt wurde, oder zumindest nur von kleinen Teilen der Bevölkerung. Die allgemeine Überzeugung war, in der Zeitung stünden nur Lügen. Dennoch hatte eben diese Propaganda eine wichtige Funktion zur Stabilisierung der Herrschaft. Ziel dabei war nicht Überzeugung, nicht Glaube, sondern primär die Wahrnehmung, der Preis einer Verweigerung der Kooperation sei zu hoch. Sprich, eine Forcierung der Kooperation dient vor allem dem Zweck, eine Bevölkerung, bei der man eine an vielen Punkten abweichende Überzeugung vermutet, davon abzuhalten, auf Grundlage dieser Überzeugung zu handeln.

Dass eine solche Strategie Erfolge zeitigt, ist aktuell an der Schwäche der Friedensbewegung zu sehen, die noch immer die Folge der massiven Diffamierungen ist, mit denen auf ihr erstes Erwachen nach dem Putsch in der Ukraine reagiert wurde. Diese Wirkungen reichten bis weit in jene Teile der Gesellschaft hinein, bei denen ein geschultes politisches Bewusstsein vorhanden ist, und erst allmählich lassen sie nach. Die Strategie hat aber auch ihren Preis; wird sie einmal eingesetzt, ist die Glaubwürdigkeit für immer verspielt. Das Ansehen, das zumindest einige der betroffenen Medien einmal hatten, ist nicht wieder herstellbar.

Absurd ist in solchen Momenten aber nicht nur die Propaganda, absurd ist auch die Wahrnehmung. Weil das Manöver wirkt, zumindest eine Zeit lang (danach muss es mit immer höheren Dosen realer Gewaltanwendung unterfüttert werden), scheint die politische Landschaft äußerst ruhig. Man hat Millionen Menschen erfolgreich die Botschaft der Borg vermittelt – „Widerstand ist zwecklos“ – und sie assimilieren sich. Das erweckt den Anschein einer sehr stabilen und starken Herrschaft. In Wirklichkeit ist das Aufpflanzen des Gesslerhuts allerdings ein Zeichen der Schwäche. Einer Schwäche im Kern dessen, was Herrschaft ausmacht, einer Schwäche der Kooperation.

Wir werden also in naher Zukunft keine Rückkehr der Vernunft in die öffentliche Erzählung erwarten dürfen; wenn dieser Weg einmal beschritten wird, gibt es keine Umkehr. Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass Aufklärung, also das Offenlegen der Manipulationen, nur begrenzt hilft, weil das Drama gar nicht auf der Bühne der Argumente gespielt wird. Aus der gegenwärtigen Situation gibt es im Grunde nur zwei Auswege. Der eine besteht darin, dass die bestehende Herrschaft (in unserem Fall die der Monopole) die Propaganda in naher Zukunft mit realer Repression unterfüttert und damit Zeit gewinnt, der andere besteht in einem Zusammenbruch der Macht, wenn die Drohung nicht mehr ausreicht und die Kooperation tatsächlich bricht.

Interessanterweise ist an diesem Punkt es ausgerechnet das ökonomisch dominante Deutschland, in dem im internationalen Vergleich die Propaganda die hysterischsten Züge trägt. Nicht nur außen-, sondern auch innenpolitisch. Wie nannte man so etwas im 19. Jahrhundert? Einen Koloss auf tönernen Füßen…

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. dr0mabuse sagt:

    Hat dies auf Jochens Sozialpolitische Nachrichten rebloggt und kommentierte:
    Lesenswerte Erklärung über die Anwendung der Meinungsmache und deren zerstörerischer Wirkung in der Linken und Friedensbewegung. Auch eine gute Erklärung für das Piepsen der Küken.

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